Freitag, 30. Dezember 2016

Willkür ist keine Schweizer Erfindung

Kassandrarufe gibt es genug:

https://www.youtube.com/watch?v=sNLNZHb0HqM&t=16s

Gerichte sind als Kontrollinstanzen in größeren Gemeinschaften unabdingbar. Menschen brauchen Kontrolle. Wer aber kontrolliert die Kontrolleure? Die Kontrolleure kontrollieren sich selbst!

Obwohl im Laufe der Menschheitsgeschichte Gerichte mehr Unrecht als Recht gesprochen haben, kommt Gerichtswillkür gefühlsmäßig immer nur zu anderen Zeiten oder an anderen Orten vor. Die "eigene" Gerichtsbarkeit wird immer ungeprüft für "richtig" gehalten; abgesehen von "Einzelfällen".

Gerichte sollen die Ordnung wieder herstellen.
Ordnung kann alles sein, das störungsfrei ist.
Wenn die Ordnung Sklaven kennt, dann ist nicht der die Sklavenhaltung anordnende Richter, sondern der sich gegen die Sklaverei auflehnende Sklave der Störer der Ordnung.
Wenn die Ordnung Hexen kennt, dann ist nicht der die Verbrennung anordnende Richter, sondern die nicht widerrufende Hexe die Störerin der Ordnung.
Wenn die Ordnung unwertes Leben kennt, dann ist nicht der die Vernichtung des unwerten Lebens anordnende Richter, sondern das unwerte Leben, das leben will, die Störung der Ordnung. 

Die Qualität einer Rechtsordnung misst sich nicht an ihrer abgehobenen, künstlichen Kompliziertheit, sondern an ihrem einfachen, natürlichen Zugang, Irrtümer zu berichtigen.

Unsere Rechtssystem hat ein Stadium erreicht, in dem nicht mehr die Wahrheit, sondern die eingesetzten Mitteln entscheidend wurden.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Integrität - ein nichtssagender Versuch eines literarischen Ausflugs


Als ich das letzte Mal in Indien war, verbrachte ich einige Tage als Ausklang mit einem Bekannten in einem kitschigen, künstlich geschaffenen Tourismus-Spot.
Unsere Tage begannen mit einem ausgedehnten Frühstück inklusive Rundumblick aufs Meer. Ebenso wie täglich Tümmler mitten unter Schwimmern die Bucht durchzogen, variierte täglich die Frühstücksabfolge: Milch, Kaffee, Eierspeise auf gebratenem Gemüse, Gebäck, Butter, Marmelade, Mangosaft. Das Ganze nannte sich israelisches Frühstück und bestach durch seine lokalen Variationen. Die Teile kamen einzeln und stets in einer anderen Reihenfolge und veränderten Paarung. 7 Teile derart vielfältig zu gestalten war an sich beachtlich.
Täglich "belehrte" mein Bekannter die Kellner: Er wolle zuerst Kaffee, Milch, Gebäck, Butter und Marmelade und dann die Eierspeise auf Gemüse mit dem Mangosaft. Ich weiß nicht, was mehr Eindruck auf mich machte: Der interessiert gelehrige Blick der Kellner, der unmissverständlich versprach, es "morgen" richtig zu machen, oder die großväterliche Geduld - im Wissen der Sinnlosigkeit des Unterfangens - meines Bekannten. Im Grunde genommen war es für beide Seiten lediglich ein Gesellschaftsspiel, bei dem alle Mitspieler wussten, dass auch am nächsten Tag der Kaffee mit der Eierspeis, der Mangosaft mit der Butter und Marmelade, und - erst auf Nachfragen - das Gebäck mit der Milch kommen würden. Oder irgendwie anders. Den Kellnern und uns war das Nacheinander des Frühstücks ebenso egal wie den Tümmlern und Schwimmern ihr Nebeneinander. Alles verlief in einer Übereinstimmung, die nicht bestimmt war. Die sich nicht bestimmen lässt. Die kommt und vergeht, die einfach geschieht.
Es war eine Stunde der Integrität, bei der jeder Eingriff von außen nur Gewalt gewesen wäre, die nichts verbessert hätte, die sinnlos zerstört hätte.
Ziemlich zum Schluss der Überraschungsfrühstücke trat er auf. Ein Inder im Dhoti, der seine Kuh grasen führte. Beide strahlten eine Vollendung aus. Die eine delektierte sich am saftigen Grün und der andere las geruhsam seine Zeitung. Wenn man die Beiden beobachtete, verblassten Erinnerungen von Milchfabriken, in denen hunderte von Kühen ohne jeden Kontakt zur Außenwelt in einem maschinellen Produktionsverfahren nur mehr als leicht störanfällige, leicht austauschbare Nebenrollen eingeplant sind. Wir wussten nicht, ob die Kuh einen Namen hatte. Ich hätten sie Auðumbla genannt. Denn wir sahen, dass sie beide vorbehaltlos ihrer Bestimmung folgten; und dadurch Großes vollendeten.
Der Inder wird sich nie ein israelisches Frühstück leisten können. Wahrscheinlich kennt er überhaupt kein Verlangen danach. Wenn er so alt sein wird, wie ich war, würde er sich aufs Sterben vorbereiten, und so alt wie mein Bekannter würde er nie werden. Eine hohe Lebenserwartung ist kein Menschenrecht, sondern ein regionales Privileg. Und trotzdem erschien er jeden Tag selbstbewusst wie ein englischer Lord. Statt mit Melone im Dhoti, statt mit Butler mit Kuh. Aber mit Zeitung wie ein echter Lord.
Integrität. Unversehrtheit. Während ein Lord, um als Lord zu leben, etliche Acres ihrer natürlichen Unversehrtheit entreißen muss (oder besser gesagt, entreißen lassen muss), nutzten beide im künstlichen Tourismus-Indien die noch verbliebene Unversehrtheit ohne sie zu missbrauchen. 
Meist verstummten wir dann. Wir gestanden uns am letzten Tag, ähnlichen Gedanken nachgehangen zu haben. Ist ein Leben mit Rundumblick und israelischem Frühstück, das 70 oder 80 Jahre dauert, voller, als ein Leben im Dhoti mit Kuh, das 50 oder 60 Jahre währt? Oder gar reicher?
Wir wussten es nicht. Uns fiel nur unabhängig von einander "integer" ein.
Mein Bekannter ist nicht mehr. Er verstarb im Krankenhaus. Ein gemeinsamer Bekannter richtete mir aus, dass er seinen letzten Tag als menschenwürdig empfunden hätte: Er konnte noch einmal alleine aufs Klo gehen.
Ob er noch einmal an den Inder im Dhoti mit Kuh gedacht hat? An eine Zeit der Ordnung? Der Unbestechlichkeit? Sicher ist, der Inder im Dhoti mit Kuh hat nie an uns gedacht. Er hat uns ja nicht einmal wahrgenommen; für ihn hatten wir statt Integrität nur ein israelisches Frühstück mit Rundumblick.
Für uns scheint die Integrität des Lebens erst wenn sie unausweichlich geworden ist zu beginnen, beim Sterben.

Integrität:
Ordnung, Sicherheit, Aufrichtigkeit, Anständigkeit, Korrektheit, Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, Redlichkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Unbestechlichkeit, Makellosigkeit, Ehrlichkeit, Unversehrtheit, Unbescholtenheit. 

Am ehesten führt noch die Kuh ein Leben in Integrität.

Dienstag, 13. Dezember 2016

Gutachter sind Handlanger der Richter,

lautet ein weit verbreiteter Vorwurf.

Richter brauchen aber das Wissen der Gutachter.

Ein erster Schritt wäre, die Bestellung der Gutachter aus dem Dunstkreis der Richterschaft zu befreien.

Derzeit suchen sich Richterinnen und Richter ihre Gutachter - in einer bestimmten Absicht - aus.

Gutachter könnten zB durch eine festgelegte Reihung, auf die einzelne Richter keinen Einfluss haben, bestellt werden.

Jede Gutachterin hat ihr Fachgebiet und ihre Schwerpunkte. Die Listen der Gutachter könnten diffiziler gestaltet werden: Psychiater könnten unterteilt werden in Gutachter, die nur über die Arbeitsfähigkeit, über die Handlungsfähigkeit usw. urteilen Wenn ein Gutachter auch nur einmal seiner Aufgabe nicht gewachsen ist, wird er aus der Liste für immer gestrichen. Auch Gutachter, die eine gewisse Tendenz zeigen, werden aus der Liste für immer gestrichen.

Und vor allem müssen Gutachter für ihre Meinung einstehen: Nicht auf dem Papier wie jetzt, sondern auch tatsächlich: Gutachter können sich viel zu leicht herausreden.