Donnerstag, 6. Juni 2019

Eine – reale – Chance unserer Expertenregierung

Schon vor der in Erinnerung gebliebenen Sinowatz-Regierungserklärung, "Ich weiß schon, meine Damen und Herren, das alles ist sehr kompliziert so wie diese Welt, in der wir leben und handeln, und die Gesellschaft, in der wir uns entfalten wollen. Haben wir daher den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen; zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und für jeden in einer pluralistischen Demokratie gar nicht geben kann.", vom 31. Mai 1983, war Regieren nicht immer ein Erfolg ohne Umwege.
Dynamische und statische Phasen wechseln einander ab. Manchmal wurde Bestehendes – trotz akuten Handlungsbedarfs – nur verwaltet. Der Verlauf der Geschichte, wäre Franz Joseph I. ein aktiver Visionär und nicht der Oberste Beamte gewesen, kann nur vermutet werden.
Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich aber die Arbeit unserer Expertenregierung vorhersagen. Für jede Maßnahme bedarf sie zusätzlich zum Verständnis der Mehrheit der Betroffenen auch die Zustimmung einer Mehrheit im Nationalrat. Hier sollte man innehalten, um sich zu fragen: Wer – vor allem, wenn von einem gut dotierten Posten zuversichtlich in die persönliche Zukunft geschaut werden kann – tut sich das an?
Alle Mitglieder unserer Expertenregierung sind Profis, die wissen, wie Regieren funktioniert. Daher muss allen eine gewisse Berufung – die vom Wunsch, zu gestalten, getragen sein muss – innewohnen.
Wie unsere elegante Verfassung diese Wünsche Realität werden lassen könnte, mögen studierte Verfassungsjuristen erklären. Wie die Politik diesen Wünschen gerecht wird, weiß – auch ohne Studium – jeder gelernte Österreicher. Vor allem im Osten lebende Österreicher neigen zu einem pessimistischen Phlegmatismus, der sich seit der Zeit, in der der Herr Karl über seinen Ansicht über die Politik philosophierte, zwar stilistisch, aber nicht inhaltlich wesentlich geändert hat.
Wirkliche Erwartungen hat wohl niemand.
Wer von ein Mehrheit des Nationalrats abhängig ist, kann, wenn ihm diese verwehrt wird, entweder
a) sich diese durch Kompromisse oder Gegenschäfte erkaufen,
b) resignieren und Däumchen drehen,
c) sein Augenmerk auf andere Aufgaben verlagern.
Das Expertenkabinett könnte den Ist-Stand evaluieren. Und es würde einige Missstände finden. Missstände, die bisher im Tagesgeschehen untergingen.
 
Glaubt man der Social Media besteht der meiste Evaluationsbedarf im Justizministerium. Dass mehrere ehemalige Höchstrichterinnen auf der Regierungsbank sitzen, wäre eine gute Gelegenheit, den einschlägigen Vorwürfen nachzugehen.
Die bisherigen Einrichtungen, wie zum Beispiel die Justizombudsstellen, gelten allgemein nicht als Garant einer optimalen Kontrolle der Kontrolleure. 
 
In einem Interview mit dem Standard meinte der damalige Präsident und heutige Beinahe-Innenminister Eckart Ratz 2012:
derStandard.at: Sie orten in der Justiz "eine Handvoll Richter, die Sorgen bereiten". Können Sie Beispiele nennen?
Eckart Ratz: Als OGH-Richter sehe ich, dass von den vielen Richtern in der ersten Instanz immer dieselben wenigen Richter ständig negativ auffallen. Weil sie es handwerklich nicht auf die Reihe kriegen. Sie nehmen einfach ihre Akten und tun irgendetwas, haben keine Struktur, schreiben Sätze, die nicht zum Punkt kommen. …
derStandard.at: Aber Richter sind unabhängig und unversetzbar. Wie gehen Sie als Vorgesetzter damit um, wenn jemand schlechte Leistung erbringt?
Ratz: Man darf nichts tun, was auch nur den Anschein einer Weisung hat. Aber im Gerichtsorganisationsgesetz steht, der OGH hat die Möglichkeit, Mängel, die er bei seinen Entscheidungen wahrnimmt, mitzuteilen. Diese Norm muss man ausnützen. Man kann dem Richter eine Fortbildung ans Herz legen. Wenn er es nicht macht, ist das ein Verstoß gegen die Standesvorschrift - dann muss der Präsident eine Disziplinaranzeige erstatten. 
Ratz war nicht der einzige Präsident des OGH, der die Justiz kritisierte.
Unfähige Richter zu entfernen ist ein gesellschaftliches Problem, das tabuisiert wird. Irgendwie scheint sich unsere Gesellschaft nicht (mehr) für ausreichend integer zu halten, in einer etwaigen Erleichterung einer Amtsenthebung eines – unfähigen – Richters keine Gefahr, die den Rechtsstaat weiter aushöhlen würde, befürchten zu müssen.
So wie der Expertenregierung selbst muss auch Ministeialen grundsätzlich ein guter Wille zugebilligt werden. Es würde sich in jedem Ministerien genug Personal finden lassen, das seinen Frust über externe Einflussnahmen los werden möchte. Das endlich das machen will, von dem es in jungen Jahren träumte: Einfach das Richtige zu tun.
Die Beschwerden über die „Justiz“ sind – so wie die Beschwerdeführer – unterschiedlich. Einige Kernaussagen tauchen aber immer wieder auf.
Beispielweise erachte die Justiz jedes Rechtsmittel als eine Art bürgerlichen Ungehorsam, der an sich schon bestraft werden müsste. Der Begriff "Verböserung" sage einiges aus. 
An einem einmal im Zuge der freien Beweiswürdigung „festgestellten“ Sachverhalt würde nicht gerüttelt. Einen Richter, der eine Berufung objektiv liest und versucht, den Gedankengang des Berufungswerbers sachlich nachzuvollziehen und auf seine Richtigkeit zu überprüfen, würde das System ausscheiden. Der würde als ein Nestbeschmutzer gelten und entsprechend behandelt werden. Beim Lesen einer Berufung würde nur darauf geachtet, wie sie verworfen werden kann.
Eine andere Schwachstelle seien die Sachverständigen und deren Bestellung. Dass Richterinnen von den Sachverständigen inhaltlich, und Gutachterinnen von den Richtern wirtschaftlich abhängig seien, hätte zu einer unglückseligen Allianz geführt, die alles, nur nicht den realen Sachverhalt feststellen würde.
Solange Richter, die Fälle nicht entscheiden, sondern „gewinnen", im Amt bleiben, kann der beste Rechtsstaat auf dem Papier nicht realisiert werden.

Um zu gewinnen, ist vielen jedes Mittel Recht.
Die Warnung, dass Beschwerden „nach hinten losgehen können", hat in einem Rechtsstaat nichts zu suchen.
Im Laufe der Zeit hat sich unstrittig die eine oder andere Unsitte eingeschlichen, mit deren Behebung bisherige Regierungen in der Hitze ihrer endogenen (auf der Regierungsbank) und exogenen (mit der Opposition) Gefechte überfordert waren. Auch die Expertenregierung wird gegen die Phalanx der Richterschaft und Staatsanwaltschaften nur wenig ausrichten können.

Eine Katharsis ist nur von oben möglich;
und oben bedeutet Höchstgerichte.
Diese Chance, dass ehemalige Höchstrichterinnen die Hebel der Macht bedienen können, wird so schnell nicht wiederkommen. Die Chance, den Rechtsstaat nachhaltig zu stärken, scheint groß; die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch genutzt wird, leider klein. Denn das alles ist sehr kompliziert so wie Rechtsprechung, mit der wir leben müssen. Aber haben wir den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen; zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und für jeden in keinem Rechtsstaat gar nicht geben kann. Dass wir ihnen aber möglichst nahe kommen wollen und können.